Würdevolles Mann-Sein: Was für Männer braucht das Land?

Was ist Mann-Sein? Wir brauchen Männer als kreative Forscher, Pioniere, Unternehmer, Wissenschaftler und Lebenskünstler, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Erde wieder ein Ort des Friedens, der Kooperation und der Schönheit wird.

Von Frank Fiess, erschienen im SEIN-Magazin, Mai 2018

 

Ich habe in den letzten 25 Jahren mit einigen Tausend Männern gearbeitet. Im Rahmen des von mir gegründeten Projekts „Im Kreis der Männer“ hatte ich die Ehre, vielen Männern sehr nahe kommen zu dürfen. Es waren Männer im Alter von 18-78 Jahren mit den verschiedensten Berufen – Ingenieure, Ärzte, Architekten, Handwerker, Künstler, Beamte, Pädagogen, Soldaten, Juristen, Studenten… –, sie waren arm und reich, groß und klein… und alle hatten die Ahnung und die Hoffnung, dass das „Unter-Männern-Sein“ ihrem Leben etwas Wertvolles zu geben hat. Der Mut vieler Männer, sich aufrichtig, nackt und wahrhaftig zu zeigen, hat mein Herz oftmals tief bewegt. Ich habe vieles von ihrem Schmerz und ihren Verwundungen gesehen und genauso von ihrer Freude, Stärke und Größe.

Immer wieder war ich gerührt, wie empfindsam Männer sein können und wie wichtig Sicherheit, Respekt, Geborgenheit und Zugehörigkeit für sie sind, um ihre authentische und kraftvolle Form von lebensbejahender Männlichkeit zu entwickeln. Doch wie sieht diese Form aus? Das alte patriarchalgeprägte männliche Dominanzverhalten früherer Jahrhunderte ist im Zuge der Emanzipation der Frauen keine wirkliche Option mehr. Das hat bei vielen Männern eine tiefe Verunsicherung in Bezug auf ihre neue Rolle ausgelöst und manche Männer haben begonnen, sich zu sehr an die Frauen anzupassen – in der Hoffnung auf Harmonie und Liebe. Eine befreundete Sexualtherapeutin, die hauptsächlich mit jungen Paaren arbeitet, kommentierte diese Tendenz vor kurzem so: „Heutzutage haben in vielen Beziehungen eher die Frauen die Hosen an.“

Der Mann und die Frau aus energetischer Sicht

Mein Bild für ein ebenbürtiges, würdevolles und glückliches Zusammenleben auf Augenhöhe zwischen Männern und Frauen ist ein Bild des Dichters Khalil Gibran. Es zeigt zwei Säulen, die ein gemeinsames Dach tragen. Dafür braucht es eine kraftvolle, eigenständige Frau und einen kraftvollen, eigenständigen Mann. Der Mann ist mit den Prinzipien des Himmels, des Geistes, der Luft und des Feuers verbunden. Die Frau ist verbunden mit der Erde, dem Gefühl, dem Wasser und dem Mond. Um die energetischen Polaritäten von Mann und Frau besser zu verstehen, möchte ich kurz auf ein tantrisches Modell eingehen, das in vielen Kulturen eine wichtige Grundlage der Liebespraxis von Frauen und Männern war und ist.

Im Verständnis dieses Modells ist der Mann im Herzen empfangend/Yin und mit seinem Penis/Lingam (Sanskrit: „Lichtstab“) gebend/ Yang. Die Frau ist in ihrem Schoß/ihrer Yoni (Sanskrit: „Heiliger Ort“) empfangend/Yin und mit ihrem Herzen gebend/Yang. Wenn dieser Kreislauf wieder fließt, vereinigen sich das weibliche und das männliche Herz, der Lichtstab und der heilige Ort, die Frau und der Mann in Liebe. Das entspricht auch der „Rückverbindung“ mit dem Urgrund des Seins, wie er in dem Wort „religio“ zum Ausdruck kommt.

Unser Ursprung und unsere Konditionierungen

Wir alle sind aus der sexuellen und spirituellen Verbindung des Weiblichen und des Männlichen entstanden. Unsere Mutter hat uns geboren und uns das Leben geschenkt. Jeder Mann, jede Frau, der/die schon einmal ein Neugeborenes in den Armen gehalten hat, weiß um die Unschuld, den Liebreiz und die Natürlichkeit jedes Neugeborenen. So kommen wir auf die Erde, als ein göttliches Wunder – verbunden mit allem und allen. In Sanskrit, der Mutter vieler Sprachen, bedeutet das Wort „Visvas“ Glauben. Die wörtliche Übersetzung lautet „leicht atmen“, bzw. „Vertrauen haben“. Glauben und Vertrauen sind also im ursprünglichen Verständnis nichts Abstraktes oder Dogmatisches, sondern Teil unseres lebendigen Atems, der uns mit allem verbindet.

Die indianischen Völker nannten diese Verbundenheit „Das Heilige Gewebe des Lebens“, die moderne Quanten-Physik nennt es „Das Große Quantenfeld“. In diesem Zustand des lebendigen Vertrauens, des verbundenen Atems, sind wir eins mit allem! Und dann geschieht in jedem Land und auf jedem Kontinent etwas Ähnliches: Wir werden konditioniert und erzogen nach irgendeiner Variante von Belohnung und Strafe – und damit „dressiert“. Unser Atem wird dann früher oder später flach und wir lernen Erstarrung, Lähmung und Angst kennen. An die Stelle des Verbundenseins mit allem tritt die je nach Land, Religion und Kulturkreis HERRschende, trennende Sicht auf das Leben! In die dadurch entstehende „Lücke“ zwischen dem Gefühl der Verbundenheit und dem der Trennung wird der Glaube an äußere Dinge hineinkonditioniert.

Je nach Land und Region „erlernen“ wir Religion, Politik, Moral – und dabei eben auch, wie Frau und Mann zu sein haben. Wir erlernen Dogmen und begrenzende Sichtweisen, auch die im Verhältnis der Geschlechter zueinander. In Afrika hören wir vielleicht, dass Kinderehen und Genitalbeschneidung sein müssen, in arabischen Ländern, dass es durchaus normal ist, dass es eine Zweit- und Drittfrau gibt und dass Männern so vieles mehr erlaubt ist als Frauen. In Indien finden wir noch immer das Kastenwesen und Zwangsehen. In unseren Breiten haben wir bis vor ungefähr hundert Jahren erlebt, dass Frauen nicht wählen durften – und bis vor 60 Jahren, dass sie die Unterschrift eines Mannes brauchten, um ein Konto zu eröffnen! Die Männer in vielen Ländern der Erde haben so auch „gelernt“, dass es wichtig ist, in den Krieg zu ziehen, dass sie mehr Macht haben als Frauen und sich mehr erlauben können. Sie haben gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken und zu funktionieren, so wie es das „Vaterland“, die Religion – oder was auch immer – braucht.

Durch all das Leid, das Männer und Frauen sich gegenseitig zugefügt haben, ist der „Schmerzkörper“ des kollektiv Weiblichen und des kollektiv Männlichen sehr angefüllt.

Der Mann in unserer Gesellschaft

In den letzten Jahrzehnten hat der Mann begonnen, über seine Gefühle zu sprechen. Er hat gelernt, auf die Frau einzugehen und eine neue Männlichkeit zu suchen. Nach meiner Beobachtung haben dabei allerdings viele Männer begonnen, sich „dem Weiblichen“ zu sehr anzupassen. Dazu kommt, dass es nicht viele männliche Vorbilder für ein würdevolles Mann- Sein gibt und Männer wie die momentanen Herren im Weißen Haus, im Kreml oder in Ankara auch nicht gerade zum guten Ruf des Männlichen beitragen. Das „seelenvolle Sein“ unter Männern findet in unserer Gesellschaft kaum noch statt. Und daher versuchen viele Männer nahezu alles über Frauen zu leben – zum Beispiel ihre Gefühle, ihren Sinn, ihre Interessen usw. Dieses Verhalten und der Verlust einer gesunden Fähigkeit, die männliche Grundschwingung positiv zu verkörpern, führt zu einer Männlichkeit, die in sich selbst verunsichert ist. Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass viele Bezugspersonen in der männlichen Sozialisation Frauen sind: Mutter, Großmutter, Tante, Erzieherin, Lehrerin, Partnerin …

Wie kann ein Mann da wieder in seine Kraft kommen? Selbst-Liebe und Selbst-Kontakt geben einem Mann Zentrierung und Verwurzelung in der eigenen Mitte. In einer Welt, in der das Männliche oft negativ assoziiert wird, ist es absolut notwendig, dass ein Mann seine eigene Männlichkeit positiv lebt und ausfüllt! Das bedeutet konkret, dass er zu seinem Körper eine liebevolle, wertschätzende Beziehung hat und ihn durch eine bewusste Ernährung und eine für ihn stimmige Körper-Praxis (Sport) gesund und lebendig hält – dass er in dem Bewusstsein lebt: „Mein Körper ist der Tempel meiner Seele.“ Es ist auch wichtig, dass ein Mann einen authentischen Kontakt zu seinen Gefühlen findet.

Was sich Männer wünschen

Die Arbeit mit vielen Männern hat mir sehr eindrücklich gezeigt, was sich Männer hinter ihrem „Funktionieren-Müssen“ und ihrer Verunsicherung – die sich entweder in Schwäche oder in Arroganz zeigt – wirklich wünschen: Nähe, Verbindung, Unterstützung, Ermutigung, einen Raum der Liebe und des Vertrauens. Dies drückt sich beim verbundenen Zusammensein mit anderen Männern in Sätzen aus wie: „Ich liebe dich so, wie du bist“, „Du bist mir von ganzem Herzen willkommen“, „Schön, dass du da bist“, „Ich bin immer für dich da“, „Ich stehe hinter dir und bin stolz auf dich“, „Ich vertraue dir“, „Du schaffst das“. Auf dem Weg des würdevollen Mann-Seins muss ein Mann daher auch lernen, seinen Geist für konstruktive, kreative, liebende Gedanken offen zu halten. Es ist entscheidend, dass er seinen Geist immer wieder in seiner Ganzheit eint und all das Kriegsgeschrei, die Vergiftungen und die zersetzenden Nachrichten, die uns im Zeitalter von Fake-News und Verschwörungstheorien jeden Tag erreichen, hinter sich lässt.

In seine Kraft kommt ein Mann, wenn er sich mit der Erde und dem Himmel verbindet, wenn er seinen Sinn und seine Spiritualität nicht über Frauen, sondern mit sich selbst und seinen Brüdern lebt. Er kommt in seine Kraft, wenn er das, was er gut kann, mit Begeisterung lebt und verkörpert. Der Mann braucht wieder eine tiefe Verbindung zum „Heiligen“ in sich. Ein Mann, der das Leben würdigt und dem Lebendigen dient, strahlt eine natürliche, in sich ruhende Autorität aus. Seine Seele und seinen inneren Kontakt zur Liebe, zu Gott wieder – zufinden, gibt einem Männerleben Glanz, Sinn, Tiefe und Frieden. Ein Mann lernt seine wirkliche authentische Kraft kennen, wenn er auch seinen Schmerz und seine Verwundung zeigen kann. Er findet seine wirkliche Stärke, wenn er seine Ängste nicht mehr an anderen Menschen ausagiert, sondern beginnt, sie zu sich zu nehmen und zu heilen.

Dies bedeutet auch, die destruktiven Grundmuster seiner männlichen und weiblichen Vorfahren zu durchbrechen. Es bedeutet, sich auch mit den eigenen Fehlern und Irrtümern zu zeigen und aufrichtig um Verzeihung bitten zu können.

Der Abschied vom patriarchalen Verhalten – die Heilung des männlichen Herzens

Würdevolles Mann-Sein heißt, dass der Mann sein über Jahrhunderte verschlossenes Herz wieder öffnet. All die Kriege, all die Vergewaltigungen, all die patriarchalischen Grausamkeiten konnten und können nur mit einem verschlossenen, verpanzerten Herzen geschehen! Die Heilung des männlichen Herzens ist das Wichtigste, was ein Mann tun kann, denn sonst bleibt ihm nur ein „Leben aus dem Kopf“ und er verliert sich in seinen Phantasien, Projektionen, seiner Gier und seinem Größenwahn. Der Kontakt mit seinem fühlenden Herzen macht die Öffnung für eine Sexualität mit Seele möglich. Den Weg des würdevollen Mann-Seins zu gehen bedeutet, dass der Mann seinen eigenen Sinn, seine eigenen Interessen und seine eigene „Medizin“ kultiviert.

Er muss sich einen eigenen, inneren Raum erschaffen, sonst verliert er seine Eigenständigkeit, seine Kraft und sein Charisma. Männliche Kraft braucht auch die Fähigkeit, die eigenen Aggressionen zur gesunden Selbstbehauptung zu nutzen. So wird der Mann wieder fähig, die zerstörerischen Energien in seinen Aggressionen umzuwandeln in die wichtige Fähigkeit, Grenzen zu setzen, sich zu behaupten und seine Kraft für konstruktives Handeln einzusetzen. Das alte Täter-Opfer-Schema bringt uns in den aktuellen gesellschaftlichen Debatten nicht wirklich weiter. Wir müssen alle frauen- und männerverletzenden Verhaltensweisen und Handlungen überwinden. Nur wirkliche Ebenbürtigkeit, Augenhöhe und Wertschätzung bringen uns weiter.

Was haben Männer der Welt zu geben?

Wir brauchen Männer als kreative Forscher, Pioniere, Unternehmer, Wissenschaftler, Lebenskünstler, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Erde wieder ein Ort des Friedens, der Kooperation und der Schönheit wird. Wir brauchen Männer, die die Kraft und die Weisheit des „inneren Königs“ verkörpern, Männer, die zutiefst mit der Heiligkeit allen Lebens verbunden sind. Sie werden gebraucht als gute Partner, als liebende Väter und als schöpferische Menschen, die entscheidend dabei mitwirken, dass die Erde ein friedlicher, lebenswerter und schöner Ort bleibt. Wir brauchen Männer, die für das Leben, für ihre Frauen und Kinder einstehen. Wir brauchen reife Männer als positive Vorbilder für junge Männer. Wir brauchen Männer, die das positive, lebensbejahende männliche und menschliche Erbe weitertragen! Wir brauchen Männer, die an der Verwirklichung des großen Traums des Friedens und der Versöhnung zwischen Frauen und Männern, Nationen und Religionen in Würde und Gottvertrauen unerschütterlich mitarbeiten.


Kommentare:

Tanja 
Wäre schön, wenn das auf den Lehrplan der Grundschule käme :-)

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